Die Böblinger Stadtpolizei vor 70 Jahren - Unfälle, Unzucht, Unfug.

Polizeiberichte aus dem Jahr 1953

Der heutige Einblick in die Stadtgeschichte befasst sich mit historischen Polizeimeldungen. Als sogenannte „Tätigkeitsberichte der Stadtpolizei Böblingen“ sind sie aus der Nachkriegszeit im Stadtarchiv überliefert. Diese Protokolle werden aktuell archivfachlich erfasst – auch jene aus dem Jahr 1953. Was erzählen uns diese Quellen über Böblingen vor 70 Jahren?

Die Gemeindepolizei Böblingen
 
1953 führte Oberkommissar Bezner das Polizeiamt in Böblingen mit seinen 18 Beamten. Die städtische Polizei war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf Druck der US-Militärregierung entstanden, um die vormaligen Machtstrukturen zu dezentralisierten. Städte mit mehr als 5.000 Einwohnern mussten nun eine eigene kommunale Polizei unterhalten. Im Unterschied zu heute unterstand das städtische Polizeiamt dem örtlichen Bürgermeister, dem damals frisch wiedergewählten Wolfgang Brumme. Erst zum 1. April 1956 erfolgte die Verstaatlichung der Böblinger Stadtpolizei, deren übergeordnete Verantwortung von der Gemeinde auf das Landespolizeikreiskommissariat mit einer neu eingerichteten Landespolizei-Abteilung Böblingen-Stadt überging.
 
Zwischen 1946 und 1948 agierte die Böblinger Stadtpolizei parallel zu einer Sonderpolizei, der sogenannten „Constabulary“, einer (Grenz-)Polizeitruppe der US Army. Stationiert an der Panzerkaserne befasste sie sich vornehmlich mit Vorkommnissen an der Grenze zwischen der amerikanischen und französischen Besatzungszone. Stadtpolizei und US-Polizeitruppe führten aber auch gemeinsame Streifen im Stadtgebiet Böblingens durch, die bereits damals insbesondere Schwarzhandel und Prostitution zur Anzeige brachten. Doch dazu später mehr.
 
Die Tätigkeitsberichte der Polizei
 
Die städtische Polizei erfasste damals wie heute täglich die „besonderen Vorkommnisse“, die sich im Verlauf des Dienstes ereigneten. Die mit Schreibmaschine verfassten, meist ein bis zweiseitigen Protokolle gingen nicht nur zu den Akten, sondern landeten als Durchschläge sowohl auf den Schreibtischen im für sie zuständigen Bürgermeisteramt, als auch im Amt für öffentliche Ordnung und auf der Polizeiwache. Über die Jahre füllten sich die Ordner, die uns heute spannende Einblicke in die Welt der damaligen Ordnungswidrigkeiten und Straftaten bieten. 
 
Die „besonderen Vorkommnisse“
 
So manches ereignete sich in Böblingen vor 70 Jahren an einem gewöhnlichen Tag. Neben „leichten und mittleren Verkehrsunfällen“, die sich so gut wie an jedem Tag in den Berichten finden, Einbruchdiebstählen, fehlender Beleuchtung an Fahrgeräten (auch Handwägen!) und „Schutzhaft wegen Trunkenheit“, scheinen aber auch die Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens und die materielle Not im Böblingen der Nachkriegszeit durch:
 
Der led. Hilfsarbeiter Stefan W. und der led. Landwirt Ludwig F., nähere Personalien nicht bekannt, haben Mitte Dezember 1953 zum Nachteil der Besatzungsmacht in der Panzerkaserne Böblingen in Kellerräumen eingebrochen und Bekleidungsstücke im Werte von 200.-DM entwendet.“ 
 
Böblingen war im Jahr 1953 noch immer von Wohnungsmangel wegen der Folgen des Zweiten Weltkriegs gekennzeichnet. Das städtische Bauamt versuchte dem wilden Bau zu begegnen. Im damals am Stadtrand liegenden Stadtteil Steinung schlug der ledige Angestellte Walter S. gleich mehrfach alle Auflagen, Warnungen und Belehrungen in den Wind und errichtete ein Wohnhaus. An anderer Stelle entledigte sich ein Lastwagenfahrer der bei Baumaßnahmen ausgehobenen Erde rücksichtslos am Oberen See.
 
Veronika, Dankeschön“. Konflikte mit den stationierten US-Soldaten
 
Auch zwischenmenschliche Beziehungen zu den weiterhin in Böblingen stationierten Mitgliedern der vormaligen US-Besatzungsmacht tauchen immer wieder in negativem Licht auf. (Naturgemäß überliefern die Polizeiprotokolle natürlich nur Konfliktfälle und werfen kein Licht andere Seiten des Miteinanders.) So ermittelten die Polizisten, dass der Freund der ledigen Haushaltsgehilfin Luise D., ein US-Soldat, für eine „erhebliche Verunreinigung“ des Lerchenwegs in der Siedlung Tannenwald verantwortlich war. Er hatte Papiertüten mit Kinder- und unbrauchbarer Damenwäsche als auch Brotzeitreste weggeworfen. Auch das Hupen eines Lkws, der US-Soldaten aus der Gaststätte Jaiser abholte, sorgte 1953 für Unmut in der Gesellschaft. Der Schreiner Mustafa B. kam bei einer Kontrolle der Fliegerhorstkaserne in den Konflikt mit den Gesetzeshütern, die ihn des Schwarzhandels mit US-Zigaretten bezichtigten. Als weiterer Umschlagplatz für Schwarzhandelsware galt schon während der Phase der Militärregierung in den späten 1940er Jahren der Postplatz, der 1953 gerade im Umbau war.
 
Die ledige Arbeiterin Elisabeth O., „zur Zeit ohne festen Wohnsitz“, wurde, so protokollierten die Polizisten, „wegen Landstreicherei und gewerbsmäßiger Unzucht“ bei der Amtsanwaltschaft Stuttgart zur Anzeige gebracht. Verstoße dieser Art nehmen in den Akten von 1953 einen beachtlichen Teil ein: Die aus Kopenhagen stammende Haushaltsgehilfin Gerda N., die in der US-Siedlung lebte und arbeitete, führten die Beamten wegen der Lues-Erkrankung dem Böblinger Gesundheitsamt und dem Arzt Dr. Fuhrmann zur Behandlung vor. Unter diesem Namen war Syphilis geläufig. Diese und andere Geschlechtskrankheiten (versteckt unter dem Kürzel „GK“) stellte die damalige Stadtpolizei auf Erlass des Innenministeriums bereits seit 1946 als Verdacht in den Raum, wenn sie Frauen wegen „gewerbsmäßiger Unzucht“ und „Ausweislosigkeit“ aufgriffen. Anzeigen wegen Prostitution erfolgten wöchentlich, teilweise täglich. Nicht nur junge Böblingerinnen, auch ledige Frauen aus der nahen und fernen Umgebung zu den Standorten der US-Kasernen, die sogenannten „Fräuleins“, prostituierten sich in der Nachkriegszeit für Zigaretten, Kaffee oder Strümpfe. Solche Genussmittel und fehlende Alltagsgüter verkauften sie (oft zum Unterhalt ihrer Familien) teuer auf dem Schwarzmarkt oder vermittelten sie an ihre Wohnungsgeber.
 
Schon 1950 hatte die Stadtverwaltung Böblingen einen Hilferuf ans Innenministerium geschickt, dass die Prostitution die öffentliche Sicherheit sowie die „Sitte und Moral“ der Stadt gefährdete. Die Stadtpolizei sei ohnmächtig gegenüber den rund 200 „Veronikas“, die sich pflichtgemäß als „vorübergehender Besuch“ anmeldeten. (Der Name leitete sich durch die öffentlichen Plakate mit Warnungen an die US-Soldaten vor V.D., „Veneral Diseases“, Geschlechtskrankheiten, ab, die der Volksmund zu „Veronika, Dankeschön“ verballhornte.)
 
Spätestens mit dem Ende der Zwangsbewirtschaftung des Wohnraums ebenfalls im Jahr 1953 hatten sich wiederum ganze Familien für „Kuppelei“ zu verantworten, etwa, wenn sie verdächtigt wurden, einzelne Zimmer zu erhöhten Preisen an Mädchen zu vermieten und „dabei duldeten, daß US-Soldaten mit den betr. Mädchen im Zimmer nächtigten.“ In den Böblinger Polizeiberichten nehmen die Anzeigen für wilde Prostitution zum Ende der 50er Jahre deutlich ab, was sowohl auf den bundesweiten ökonomischen Aufschwung im Zuge des ‚Wirtschaftswunders‘ als auch auf strukturelle Änderungen innerhalb der US-Army zurückzuführen ist.
 
Moral und Gesellschaft
 
Die gesellschaftlichen Moralvorstellungen in der damaligen Bevölkerung scheinen auch in anders gelagerten Delikten in den Polizeiberichten durch. Die Furcht vor Schlägen sorgte beispielsweise dafür, dass der Professorensohn Klaus P. aus seinem elterlichen Haus entwicht. Ein anderes, weit weniger präsentes gesellschaftliches Problem zeigte sich in den Polizeianzeigen durch Böblinger Apotheker. Rauschgiftsüchtige und heimgekehrte Kriegsversehrte versuchten anhand von gefälschten Rezepten an Betäubungsmittel zu gelangen, etwa das in den frühen 50-er Jahren aufkommende Polamydon.
 
Schmunzeln lassen zwei Anekdoten zu guter Letzt. Mitten in einer winterlichen Nacht griffen die Polizisten den ledigen Sattler Rudolf F. auf, der sich nun für den Tatbestand des „Groben Unfugs“ zu verantworten hatte: Er war „durch das offene Fenster der Gastwirtschaft Klaffenstein eingestiegen, um noch ein Glas Bier zu bekommen.“ Die Alarmanlage der Böblinger Stadtkasse rief die Polizisten wiederum in der Sommernacht des 28. Augusts 1953 auf den Plan, die, wie die Beamten nüchtern feststellten, wegen Böllerschüssen auf dem Schlossberg Alarm geschlagen hatte. Was war passiert? Eine Aufführung am Schloss hatte lautstark den Auftakt zu den mehrtägigen Festlichkeiten zur 700-Jahrfeier der Stadt gegeben, die sich dieses Jahr ebenfalls zum 70. Mal jähren. Dieser besonderen Veranstaltung im Sommer 1953 nimmt sich ein nächster Einblick in die Stadtgeschichte Böblingens an.
 

Fotos aus: Walcher, Wolfgang: Vom Landespolizei-Kommissariat zur Polizeidirektion Böblingen. Zeitgeschichtliche Dokumentation über die Aufgaben und Organisationsstrukturen der Landespolizei in Württemberg. Die Jahre 1945-1975 (Veröffentlichung des Heimatgeschichtsvereins für Schönbuch und Gäu e.V. Bd. 21) Böblingen 1998.
Auf dem Parkplatz beim Zollamt: Die Dienstkraftfahrzeuge des Landespolizei-Kommissariats Böblingen 1950
Notdürftige Absicherung einer Unfallstelle. Aufnahme durch die Motorrad-Streife des Landespolizei-Kommissariats Böblingen 1948
Eine außergewöhnliche Unfallaufnahme vom 13. Februar 1951: Ein überladener LKW bricht durch die Fahrbahn der Bergstraße in Dagersheim