Einblick in die Stadtgeschichte 1923

links: Das alte Rathaus an der Marktstraße, erbaut ab 1829

Was geschah in Böblingen vor 100 Jahren? Dieser Einblick in die Stadtgeschichte blickt ins Jahr 1923. Ein kleiner, inhaltlich aber umso aufschlussreicher Bestand im Stadtarchiv ist hierzu nun für Ihre Recherchen erschlossen: Es sind die Unterlagen des ehemaligen SPD-Gemeinderats Gottlob Baisch aus den 1920er und beginnenden 1930er Jahren – mit einem letzten Blatt, dass es wahrhaftig in sich hat.

Gemeinderatsprotokolle – eine Quelle für lokalpolitische Entscheidungen
 
Um lokalpolitische Entscheidungen damals wie heute nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick in die Gemeinderatsprotokolle. Denn der demokratische Gemeinderat berät und entscheidet über die wichtigsten Angelegenheiten einer Stadt. Seit 1919 entstehen so auch die Niederschriften, die den Inhalt der regelmäßigen Sitzungen protokollieren. Vor 100 Jahren, 1923, tagte der Gemeinderat im Sitzungssaal des prächtigen Rathauses, das sich bis zu seiner Zerstörung 1943 noch an der Marktstraße befand. Vernichtet wurden im Zweiten Weltkrieg damit leider auch die Sitzungsprotokolle, die man Dachgeschoss des Rathauses aufbewahrte.
Umso wertvoller ist der Archivbestand von Gemeinderat Gottlob Baisch, der auch dazu beiträgt, die verbrannten Gemeinderatsprotokolle seit den 1920er Jahren zu rekonstruieren. Eine mühsame Kleinarbeit – die sich lohnt: Wir erhalten einen Einblick in die Entwicklung und den Verfall der Weimarer Demokratie in Böblingen bis in die Untiefen des Nationalsozialismus vor Ort. Denn Gottlob Baisch vertrat die SPD im Gemeinderat von 1919 bis 1933 – dem Jahr, als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde und mit seinem Machtapparat in kürzester Zeit den Rechtsstaat aushebelte.
 
Notgeld und Ruhrspende
 
Zehn Jahre vor der Machtergreifung Hitlers, 1923, beschäftigen die inflationär steigenden Lebenshaltungskosten den Gemeinderat. Zwar existiert bereits eine nationalsozialistisch gesinnte Ortsgruppe (unter dem späteren württembergischen Ministerpräsidenten Christian Mergenthaler), bei den beiden Reichstagswahlen 1924 ist die kommunistische Partei jedoch in Böblingen noch die stärkste Kraft. Auf der Tagesordnung des damaligen Gemeinderats stehen wertbeständige Löhne von Waldarbeitern und Stadttaglöhnern, die in Böblingen ihr Auskommen suchen. Sowohl die Verteilung von Lebensmittelbeihilfen, Holzgeldnachlässe als auch Notstandsdarlehen und die Beschäftigung der vielen Erwerbslosen diskutieren die Gemeinderäte (bis 1965 nur Männer), ebenso Lösungsansätze für die „Heimatnot“ (so bezeichnete man den fehlenden Wohnraum für die wachsende Stadtbevölkerung).
 
Auch die überregionale, tagesaktuelle Politik ist Thema in Böblingen: Frankreich marschiert Ende Januar 1923 wegen ausstehender Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg ins Ruhrgebiet ein. Die Besetzung des deutschen Zentrums der Schwerindustrie löst deutschlandweit einen Sturm der Entrüstung aus. Zusätzlich zum passiven Widerstand der Bevölkerung sammeln Gemeinden, Vereine und Kirchen solidarisch Spenden für das Ruhrgebiet. Auch Böblingen beteiligt sich, Gemeinderat Baisch kommentiert handschriftlich „100.000“.
 
Auch für die folgenden Jahre könnte man anhand von Baischs Unterlagen die städtischen Belange weiter beobachten. Blättert man jedoch ganz an den Schluss des Archivbestands, so merkt man auf: Äußerlich kommt das letzte Blatt schlicht, vergilt und mit Schreibmaschinenlettern daher. Der Text hat es allerdings in sich. Baisch legt hierin am 20. März 1933 sein Gemeinderatsmandat nieder. Er begründet: „Auf Grund der Bestimmungen des § 2 der Satzung des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer & Kriegshinterbliebenen: „Der Reichsbund ist parteilos & religiös neutral, er steht auf dem Boden der Reichsverfassung.“ und einer besonderen Erläuterung unserer Bundesleitung habe ich heute meinen Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei erklärt.“ Mit dem Parteiaustritt hatte er auch sein SPD-Gemeinderatsmandat niederzulegen. Wie ist das zu verstehen?
 
Die nationalsozialistische Gleichschaltung
 
Gottlob Carl Baisch, geboren am 13. März 1878, war zeitlebens ein politisch aktiver Mann. Der gelernte Malermeister leitete neben seiner Gemeinderatstätigkeit seit 1919 das Versorgungsamt (und nach dem Zweiten Weltkrieg das Arbeitsamt), zudem gehörte er zum Vorstand des 1929 gegründeten hiesigen Arbeiter-Flugsport-Verbandes. Aus dem Ersten Weltkrieg war Baisch als sogenannter Schwerbeschädigter zurückgekehrt, woraus sich seine Mitgliedschaft im oben angeführten Reichsbund der Kriegsbeschädigten ergab. Das war ein SPD-naher, sozialpolitischer Interessenverband, der sich für die Stärkung sozialer Rechte und die Versorgungsansprüche der Kriegsopfer einsetzte. Dessen vermeintliche politische Neutralität (und seine Auflösung kurz darauf) sollte die 1933 drohende politische Gleichschaltung verhindern, das heißt, die erzwungene Eingliederung in einen nationalsozialistischen Verband.
Wir erinnern uns, keine zwei Monate zuvor, mit der Wahl Hitlers zum Reichskanzler Ende Januar 1933, hatten die uniformierten Nationalsozialisten mit ihren Fackelzügen nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Reich eindrücklich ihre „nationale Erhebung“ zur Schau gestellt. Die Macht der Nationalsozialisten war auch in Böblingen mittlerweile so massiv zu spüren, dass Gottlob Baisch seinen Austritt aus einem (gleichgeschalteten) Gemeinderat einer erzwungenen Vereinnahmung durch NS-Funktionäre vorzog.
 
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kandidierte er erneut als Gemeinderat für die Bürgermeisterwahlen – und unterlag dem 42 Jahre jüngeren Wolfgang Brumme. Doch das ist eine andere Geschichte, die Sie auch auf der Homepage zur Böblinger Stadtgeschichte finden (stadtgeschichte.boeblingen.de).