Der „Merian-Stich“. Eine Stadtansicht von 1643 zwischen Ideal und Wirklichkeit.

Der sogenannte „Merian-Stich“ ist die wohl bekannteste historische Stadtansicht Böblingens. Sie zierte unter anderem die aufwändigen Einladungskarten, mit der Bürgermeister Wolfgang Brumme vor genau siebzig Jahren, 1953, zur feierlichen Eröffnung der „700-Jahrfeier“ in den prächtigen Schönbuchsaal einlud. Als Quelle zur Böblinger Stadtgeschichte ist sie im Stadtarchiv aufbewahrt. Dieser Einblick in die Stadtgeschichte nimmt den Kupferstich unter die Lupe, den Matthäus Merian 1643, vor 380 Jahren, fertigte. Er gab der Stadt das Gesicht, das unsere Vorstellung von Alt-Böblingen bis heute prägt.
 
Die älteste Stadtansicht Böblingens in Merians „Topographia Germaniae
 
Der „Merianstich“ ist nicht nur die meistgenutzte, sondern wohl auch die älteste – bisher bekannte – Stadtansicht Böblingens. Sowohl der geschwungene Schriftzug „Böblingen“ als auch die über der Stadt schwebende Wappenkartusche mit dem Stadtwappen lassen keinen Zweifel zu: Hier sehen wir aus nördlicher Perspektive, von Sindelfingen aus, eine Stadtansicht von Böblingen, und zwar um die Mitte des 17. Jahrhunderts.
 
Diese eindrückliche Stadtansicht des historischen Böblingens ist Teil von Merians Hauptwerk, seiner „Topographia Germaniae“. Es gilt als eines der größten Verlagswerke seiner Zeit: In den insgesamt 16 Bänden, die ab 1642 entstanden, finden wir über 2.100 Einzelansichten von diversen Ortschaften, auch solche von Schlössern, Burgen und Klöstern. Ihr Urheber, Matthäus Merian (der Ältere, 1593–1650), gehörte zu den bedeutendsten Kupferstechern und Verlegern des 17. Jahrhunderts. Er stammt aus einer vornehmen Basler Familie. Mittels eines grafischen Tiefdruckverfahrens gravierte er die Stadtansicht, deren schwarzer Druck auf hellem Papier viele Details über das frühneuzeitliche Städtchen Böblingen verewigte:
 
Am rechten Bildrand ist das ehemalige Untere Stadttor mit Torbrücke – beim heutigen Elbenplatz – zu erkennen. Die heutigen Stadtteile um den Bahnhof gen Sindelfingen existierten damals noch lange nicht. Bis zum herrschaftlichen Schloss und seinem Garten am linken Bildrand führte die Stadtmauer, die Alt-Böblingen in Form von zwei Mauerringen mit Zwinger umgab. Die äußere Stadtmauer im Bastionenstil ergänzte dabei mit ihren fünf auf dieser Stadtseite angeordneten, halbrunden Wehrtürmen seit dem 16. Jahrhundert die mittelalterliche Stadtmauer des 13. Jahrhunderts. Mit seinem rundem Spitzdach sticht der „Grüne Turm“ heraus. Er steht schon seit 1928 unter Denkmalschutz. Als Teil der Wehranlage bildete der Grüne Turm in der Frühen Neuzeit die nördliche Ecke der Stadtbefestigung. Er sicherte die Verbindung von Stadt und Schlossgarten, bevor er später zum Gefängnis umfunktioniert wurde.
 
Der Merian-Stich bildet damit so manches Detail ab, das wir noch heute in der Architektur der Stadt wiedererkennen: Die innere, mittelalterliche Stadtmauer begrenzte die Stadtbebauung entlang der heutigen Unteren Gasse. Die oftmals noch spätmittelalterlichen Fachwerkbauten mit Spitzdächern scheinen in der Stadtansicht teilweise nahtlos in die Stadtmauer überzugehen – und genau das war auch der Fall. Die Außenwand jener Häuser war tatsächlich die Stadtmauer. Auch wenn heute von der Stadtmauer nur noch kleine Teile in der Unteren Gasse erhalten sind, ist deren mittlerweile denkmalgeschützter Wehrgang nach wie vor über die angebauten, historischen Häuser selbst zu erreichen.
 
Zwischen Ideal und Wirklichkeit. Oder: Der Schein trügt?
 
Bevor wir uns weiteren markanten Gebäuden in der Stadtansicht widmen – Schloss, Kirche, Rathaus – nehmen wir zunächst die zeitgenössischen Figuren am Bildrand in den Blick. Der musizierende Hirte und das ruhende Vieh erzeugen eine romantisierende ländliche Idylle, die das hübsche Städtchen friedvoll einrahmen. Doch das entsprach keinesfalls der Wirklichkeit. Zu jener Zeit hatte der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648) auch in Böblingen eine schreckliche Spur der Ausbeutung und des Elends hinterlassen. Verschiedene Kriegsparteien kämpften um nichts weniger als die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich und Europa. Erst der Westfälischen Frieden 1648 setzte dem Grauen ein Ende und befriedete die kriegsführenden Länder, Konfessionen und Dynastien in einer ersten Friedensordnung Europas.
 
Die Bevölkerung vor Ort litt unter dem langwährenden Krieg. Wir wissen, dass die Böblinger Stadtbevölkerung die durchziehenden Kriegstruppen mit Naturalien versorgen musste, die vor allem in den 1630er Jahren die Stadt besetzten und hier ihre Winterquartiere errichteten.  Marodierende Banden und plündernde Soldaten durchzogen Böblingen. Rund zwei Drittel des Viehs in den hiesigen Ställen verendete, die Bevölkerungsverluste waren noch Jahrzehnte später zu spüren. Als wäre es nicht genug, grassierte 1635 eine Seuche.
 
Was ist von Merians Stadtansicht Böblingens nun zu halten? Alles schöner Schein statt damaliger Wirklichkeit? Matthäus Merian ging es in seiner Stadtansicht nicht darum, den Dreißigjährigen Krieg abzubilden. Das tat er an anderer Stelle, etwa in einem Kupferstich zur Schlacht bei Tuttlingen am 24.11.1643 oder in seiner militärischen Karte zur Schlacht bei Lützen 1632. Stattdessen hielt Merian in seiner „Topographia Germaniae“ die städtebaulichen Gesichter der porträtierten Ortschaften fest. Wir wissen heute, dass es Merian wie kaum einem anderen Künstler seiner Zeit gelang, seine Kupferstiche fantasievoll, aber auch mit einem Anschein von Wirklichkeitstreue auszuschmücken. Sein erklärtes Ziel war es, den idealisiert-historischen Zustand der Städte angesichts der fortwährenden Verwüstung durch den Dreißigjährigen Krieg zu dokumentieren.
 
Die historische Bausubstanz Böblingens belegt, dass er eine Vielzahl an Details in seiner Stadtansicht Böblingens wahrheitsgetreu aufgriff. Das darf uns jedoch nicht dazu verführen, seine Ansicht als maßstabsgetreue Abbildung zu missinterpretieren. War der Kirchturm höher als der Schlossturm? Womöglich. Vielleicht liegt hierin aber auch die künstlerische Freiheit Merians. Hatte das damalige Rathaus, das man schon vor 1578 am Marktplatz bei der Kirche errichtet hatte, bereits das charakteristische Türmchen neben den zwei Kaminen, wie wir es in Merians Stadtansicht sehen? Vermutlich. Doch erst für den Nachgängerbau der 1830er Jahre – etwas westlicher am Marktplatz gelegen – haben wir die Gewissheit, wonach ein „Thürmchen mit Glocke und Uhr“ das Satteldach zierte (das Rathaus wurde dann im Zweiten Weltkrieg zerstört). Wie bei so vielem bleibt die Gewissheit, das eine Annäherung an das historische Böblingen erst durch die Zusammenschau von vielen verschiedenen Quellen möglich wird.
 
Merians Kupferstich bot den Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts die Ansicht eines unversehrten, friedlichen Städtchens – eine bildgewordene Hoffnung, die man in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs der eingangs erwähnten Einladungen zum Stadtjubiläum 1953 angesichts einer verheerten Stadt nur zu gerne aufgriff.

Der Kupferstecher und Verleger Matthäus Merian, der Ältere, im Kupferstich

Böblingen. Ein Kupferstich von Matthäus Merian (1643)