DER "JUDENACKER"

Der Einband des Böblinger Lagerbuchs von 1587 (StadtA BB 1 12 Nr.1). In diesem frühneuzeitlichen Lagerbuch dokumentierte der Stadtschreiber Jörg Marx Knoder Besitzrechte sowie herrschaftliche Ansprüche auf Einkünfte und Dienste.

In den Böblinger Lagerbüchern ist von 1495 bis 1707 ein Judenacker in der damaligen Zelg Nordthalde (auf der heutigen Hulb) belegt. Bezeichnungen wie Judenacker, Judenwiese oder Judengarten außerhalb eines Ortes sind meist auf den oft kurzfristigen Besitz durch Juden und Jüdinnen zurückzuführen und beschreiben in vielen Fällen ein Kaufgeschäft. Seltener wurden früher auch jüdische Friedhöfe als ‚Judenacker‘ bezeichnet. Flurnamen gehen auf mündlich überlieferte Erinnerungen der Bevölkerung zurück und lieferten als Orts- oder Besitzbeschreibung Orientierung. In den Schriftquellen erscheinen sie häufig erst viel später. Die ursprüngliche Verbindung, die für den Namen gesorgt hatte, besteht möglicherweise schon nicht mehr. Daher ist anzunehmen, dass die Beschreibung Judenacker im Lagerbuch von 1707 auf einen mittelalterlichen Besitz zurückzuführen ist.

Die gelb unterlegte Markierung zeigt die ungefähre Lage des Judenackers in der damaligen Zelg Nordthalde. Das betreffende Flurstück lag also außerhalb der Stadtmauern in einer von Wiesen und Äckern geprägten Landschaft. Quelle: Darstellung nach leo-bw.de mit der historischen Flurkarte von 1830/31 © Mathis Mager (mit freundlicher Genehmigung).

DIE "JUDENGASSE"

„Jacob Schott Jeörgen sohn, zinst järlichs ausser seinem hauß unnd hoffraÿthin sambt aller zugehördt in der judengassen, zwischen Barttlin Maÿers und Jeörg Jungen hausern gelegen, stost hinden auff die allmandt gassen, unnd vornnen auff Wernher Ströhlings hofraÿthin […]“Auszug und Transkription der Seite 328v aus dem Böblinger Lagerbuch von 1587 (StadtA BB A 12 Nr. 1)

Außerdem nennt das Lagerbuch von 1587 konkret zwei Häuser, die sich in der Judengasse befanden. Ihre genaue Lage lässt sich nicht mehr zweifelsfrei bestimmen. Es spricht viel dafür, dass sie den westlichen Teil der Unteren Gasse zwischen dem heutigen Torgässle und dem Marktgäßle begrenzten.

Leben also im 15. Jahrhundert Juden und Jüdinnen in Böblingen?

Das ist möglich: Denn auch andere Orte in der Region erlauben damals einzelnen Juden und ihren Familien die Ansiedlung. 1454 nimmt die Stadt Herrenberg zeitweilig die beiden Juden Ykussiel und Jakob gegen ein zinsloses Darlehen sowie eine Zahlung von 150 Gulden auf. Für Böblingen fehlen jedoch weitere Quellen, die über einen tatsächlichen Aufenthalt jüdischer Personen berichten könnten.

Die Historische Flurkarte Württembergs (1830/31) bildet den Zustand der Stadt etwa 250 Jahre nach der Erwähnung der Judengasse im Lagerbuch ab, weshalb mit kleineren Abweichungen gerechnet werden muss. Fotos: Matthias Witschel © 2025 Mathis Mager (mit freundlicher Genehmigung).

IN WÜRTTEMBERG VERBOTEN!

Graf Eberhard V. „im Bart“ von Württemberg auf einem der Fensterbilder in der Stiftskirche in Tübingen (nach 1478). Foto: Rafael Toussaint / CVMA Freiburg (mit freundlicher Genehmigung).

Bereits vor 500 Jahren leben nur wenige jüdische Familien in Württemberg: Im Jahr 1492 legt der württembergische Graf Eberhard V. (der spätere Herzog Eberhard I.) in seinem Testament fest, dass sich keine Juden und Jüdinnen mehr in Württemberg niederlassen sollen.

Wege verschließen sich...

1498 folgt mit der Zweiten Regimentsordnung der württembergischen Landstände ein entsprechendes Verbot der Ansiedlung sowie der wirtschaftlichen Betätigung im Gebiet des Herzogtums. Zudem schränken strenge Geleitbestimmungen ihre Bewegungsfreiheit stark ein. Weit verbreitete antijüdische Einstellungen, Sorgen vor wirtschaftlicher Konkurrenz und der Wunsch nach konfessioneller Homogenität führen im ganzen Herzogtum zum Ausschluss der jüdischen Gemeinschaften für die nächsten 300 Jahre.

„Deßhalben durch wyland unsern gnedigen herrnn hertzog Eberharten loblicher gedechtnus in siner fuerstlichen gnaden testament [...] underschrieben besigelt und angenommen. Gesetzt und geordnet ist. Das in dem fuerstenthumb wirtemberg dehain [khain] jud soll gehalten werden. So wollen wir [...] das diese nagenden wuerm die juden. In disem fuerstenthumb nit gehalten. Ouch desselben anstoessern und nachpurn bittlich geschrieben werden, die juden ouch nit zuhalten.“
 
Quelle: Auszug aus der Zweiten Regimentsordnung der württembergischen Landstände (1498), in: A.L.Reyscher „Sammlung der württembergischen Staats-Grund-Gesetze 2“ (Stuttgart 1829). Die Bezeichnung „nagenden wuerm“ zeigt das antijüdische Gedankengut der Zeit.

Neben Württemberg weisen auch andere Territorien und Städte des Heiligen Römischen Reiches im Verlauf des 15. und 16. Jahrhunderts Juden und Jüdinnen aus. Eine zeitgenössische Darstellung verbindet die Vertreibungen mit der biblischen Erzählung des Auszugs der Israeliten aus Ägypten. Quelle: Hebräisches Gebetbuch (Sidur minhag Ashkenaz ha-maaravi) aus Mainz um 1430 (SUB Hamburg Cod. Heb. 37 fol. 27r).
Wandgemälde eines Juden als Christusmörder. Diese Vorstellung war die Grundlage des religiösen Antijudaismus. Solche negativen Zuschreibungen ihrer jüdischen Mitmenschen prägten die christliche Vorstellungswelt. Ausschnitt einer Wandmalerei in der Katharinen-Kapelle in Landau (Pfalz) aus dem 14. Jahrhundert. Quelle: Stadtarchiv Landau / Fotoarchiv (mit freundlicher Genehmigung).

IN WÜRTTEMBERG VERBOTEN?

Darstellung des jüdischen Häftlings Samuel Heinemann, auch Mendel Carbe genannt. Er wurde beschuldigt, ein Baldober (Auskundschafter) oder Anweiser einer Bande gewesen zu sein. Quelle: Paul Nicolaus Einert „Entdeckter jüdischer Baldober“, Coburg 1758 (ULB Sachsen-Anhalt).

Ein Handelsreisender vor Gericht

Am 1. April 1531 verurteilt das Gericht zu Böblingen Hanns Dir aus Deufringen. Er hatte versucht, dem Juden Lasarus zur Flucht aus dem Gefängnis zu verhelfen. Er verpflichtet sich, künftig die württembergischen Gesetze zu achten. Zwei Wochen später, am 15. April 1531, wird der Jude Lasarus wegen unerlaubten Durchzugs durch Württemberg verurteilt. Er trägt die Gerichtskosten. (Quellen: HStAS A 44 U 495 und HStAS A 44 U 494)

Wie war das möglich?

Das Dorf Deufringen gehörte im 16. Jahrhundert den Herren von Gültlingen. Als Reichsritter entscheiden sie selbstständig über die Aufnahme von jüdischen Menschen. Aufgrund der strengen Bestimmungen ist es den Deufringer Juden jedoch kaum möglich, sich in der Region zu bewegen oder Handel zu treiben, ohne gegen die herzoglichen Gesetze zu verstoßen. Werden sie im Amt aufgegriffen, urteilt das Stadtgericht in Böblingen.

Seit dem 16. Jahrhundert können jüdische Gemeinschaften nur noch an den Landesgrenzen des Herzogtums, in den Dörfern und Kleinstädten der niederadeligen und geistlichen Herrschaften existieren. Ein Schwerpunkt in der Region lässt sich um Horb mit den angrenzenden Dörfern Rexingen, Nordstetten, Dettensee, Mühringen und Baisingen erkennen.

Quelle: Jüdische Niederlassungen im Mittelalter und Jüdische Bevölkerung 1825, in: Historischer Atlas von Baden-Württemberg, Stuttgart 1972. Geobasisdaten © LGL, www.lgl-bw.de. Die Markierungen stellen schemenhaft den Herrschaftsraum des Herzogtums bzw. des Königreichs Württemberg dar.

IN WÜRTTEMBERG GEFUNDEN?

1738/39 Eine magische Schatzsuche

Eingang zum jüdischen Friedhof in Dettensee, heute ein Stadtteil von Horb am Neckar. Foto: Friedi13 (CC BY-SA 4.0) via Wikimedia Commons.
Christophorus-Figur auf dem Marktbrunnen in Böblingen. Foto: Stadtarchiv Böblingen.

In Haft genommen: Gleich mehrere Böblinger versuchen im 18. Jahrhundert Geld herbeizuzaubern. Mithilfe des sogenannten „Christophelsgebets“, eines Kruzifixes und von Weihwasser wollen sie das „Geldmännlein“ beschwören – ein Geistwesen, das ihnen den Ort eines vergrabenen Schatzes verraten soll.Die Sündenböcke? Neben einem Priester und einem Unbekannten aus Stuttgart sollen ihnen auch mehrere Juden aus Dettensee (bei Horb) geholfen haben. Vermutlich handelt es sich dabei um eine Schutzbehauptung. Und doch zeigt dieser Vorfall: Die Menschen in Böblingen wussten trotz anhaltender Verbote, dass Juden und Jüdinnen in der Region lebten. Sie kannten deren Wohnorte – und hatten möglicherweise sogar persönlichen Kontakt.

VOM JUDEN ZUM CHRISTEN

1823 Die Taufe des Christian Gottlieb Isaac in Dagersheim

Das 19. Jahrhundert bringt mit der Umsetzung aufklärerischer Ideen und staatsbürgerlicher Reformen schrittweise die rechtliche Gleichstellung von jüdischen Menschen mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft. Dennoch tritt ein 1784 in Rexingen geborener Jude im Jahr 1823 in Dagersheim zum Christentum über: Aus einem namenlosen „Israeliten“ wird Christian Gottlieb Isaac. Zwei seiner Taufpaten sind keine Geringeren als die führenden Persönlichkeiten des hiesigen Pietismus - Schulmeister Immanuel Gottlieb Kolb und der Kaufmann Johann Jonathan Friedrich Metzger.

Ausschnitt aus dem Taufregister für Dagersheim 1808 – 1832. Evangelisches Archiv Baden und Württemberg G 142 Nr. 3 Bild 126.